Laterale Führung – Die helle Seite der Macht
Derzeit entstehen in vielen Organisationen und Vereinen vermehrt netzwerkartige Formen der Zusammenarbeit. Thematisch relevante Expertinnen und Experten kooperieren dort in Projekten unabhängig von ihrer jeweiligen hierarchischen Zugehörigkeit. Das Sagen haben in diesen Netzwerken jene, die sich auskennen. Führungskonzepte, die auf formaler Rangordnung basieren, stoßen hier rasch an ihre Grenzen. Grund genug, sich Laterale Führung als Thema genauer anzusehen, nimmt es doch zusehends an Fahrtwind auf.
Laterale Führung steht auf drei Säulen
Nach Stefan Kühl und Thomas Schnelle beruht Laterale Führung auf drei zentralen Einflussfaktoren: Macht, Vertrauen und Verständigung. Mit ihrer Hilfe gelingt es, die unterschiedlichen Interessen aller Beteiligten zu etwas möglichst Tragfähigem, Gemeinsamen zu verbinden und so einen kollektiven Denkrahmen zu schaffen.
- MACHT ist dabei der verwirrendste Begriff, steht er doch landläufig im Verdacht eines negativen Beigeschmacks. In diesem Fall ist jedoch eine positive Einflussgröße damit gemeint. Weist ein Mitarbeiter beispielsweise im Vergleich zu anderen besonderen Expertisen oder Erfahrung in einem Thema auf, übernimmt er fast automatisch die inhaltliche Führung auf diesem Gebiet. Ähnliches gilt für das Senioritätsprinzip: Eine Person, die bereits seit längerem an einem Thema oder in einem Team arbeitet, verfügt über viel implizites nützliches Wissen. Und dann gibt es Menschen, die besonders gut im Netzwerken sind oder sich leicht gute und tragfähige Beziehungen zu anderen Teammitgliedern oder Personen in anderen Abteilungen aufbauen können. In diesen Verbindungen stecken wertvolle und durchaus machtvolle, nutzenbringende Ressourcen. Die wohl am meisten unterschätzte Form von Macht ist jene des Zuhörens. Es ist immer gut zu wissen, was sich unter den Beteiligten im Team, im Projekt oder im Unternehmen abspielt. Das richtige Zu- und Hinhören kann über Erfolg oder Misserfolg in einem Projekt entscheiden.
- VERTRAUEN ist wichtig, das weiß wohl jeder. Der Beginn einer vertrauensvollen Beziehung ist jedoch heikel – muss doch irgendjemand mit einem Vertrauensvorschuss an den anderen beginnen. Deshalb heißt es auch „Vertrauen schenken“ – immer in der Hoffnung, dass dieses Geschenk nicht missbraucht wird. Ver- oder auch Zutrauen braucht daher einerseits Mut, andererseits Zeit, weil sich die Folgen dieser Investition erst später zeigen. Es lässt sich weder herstellen noch verordnen, es muss über die Zeit wachsen. Besteht Vertrauen innerhalb eines Teams und in die gemeinsamen Fähigkeiten, so braucht es Aufmerksamkeit und Pflege. So bleibt es groß und kräftig und bekommt Widerstandskraft, gegen die rauen Stürme des Alltags. Wenn das gelingt, können sogar emotionale Konflikte auf der Sachebene ausgetragen werden. Dann sind sie nützlich für die Qualität des gemeinsamen Ergebnisses.
- VERSTÄNDIGUNG hat viel mit dem Kennenlernen der Bedürfnisse, Wünsche und Sorgen anderer zu tun. Wer ohne Weisungsbefugnis führen möchte, muss fähig sein und Interesse daran haben, die Gedanken anderer so weit zu ergründen, dass daraus die Anzahl von Handlungsoptionen steigt. Auftretender Widerstand ist dann immer ein Zeichen dafür, dass wichtige Informationen fehlen, die den Erfolg eines Projekts weiter absichern können. Jene Menschen, die sich trauen, Widerstand zu leisten, sollten daher stets als wichtige Informationsquellen wertgeschätzt und ernst genommen werden.
Laterale Führung bedeutet im Grunde, dass es jemanden gibt, dem das Ziel wichtiger ist, als jegliche Art von Weisungsbefugnis – und diese trotzdem respektiert. Einen, der sich für die Expertise der Beteiligten interessiert. Einen, der weiß, wozu etwas gemacht werden soll. Die Basis für eine erfolgreiche Zusammenarbeit beruht dabei auf freiwilliger Kooperation und dem Schaffen eines gemeinsamen Denkrahmens, einer gemeinsamen Realität. Klingt in der Theorie gut und einfach, ist in der Umsetzung dann doch etwas komplexer.
Im Alltag macht’s die Mischung
Das Zusammenspiel und die Ausgewogenheit der drei Faktoren – Macht, Vertrauen und Verständigung – können situationsbedingt variieren. Sie können so ineinandergreifen, dass sie sich gegenseitig stützen und nützen. Und es ist durchaus möglich, dass sie sich hie und da gegenseitig behindern. Das Geheimnis erfolgreicher lateraler Führung beruht darauf, situationsabhängig die richtige Gewichtung von Macht, Vertrauen und Verständigung zu finden.
Dann werden Lösungen für Probleme direkt im Team gemeinsam entwickelt – oder Expertise von außen eingeholt. Dann wird Widerstand als Ressource gefeiert – oder als besondere Form von Engagement erlebt. Dann kann Zuversicht in harten Zeiten die nötige Geduld bringen, um gemeinsam durchzuhalten – oder, bei entsprechenden Rahmenbedingungen, einvernehmlich das Ende eines Vorhabens beschlossen werden. Ganz nach dem Prinzip: Einer für alle und alle für einen.
Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie möchten ein großes Firmenfest für die gesamte Belegschaft samt Familien an Ihrem Standort in Wien organisieren. Als Termin haben Sie Anfang September gewählt, weil da viele vom Urlaub zurück sind und auch das Wetter noch gut genug sein müsste. Jetzt ist es hilfreich, wenn Sie gute Kontakte haben, die sich mit der Organisation von Großereignissen auskennen und Ihnen tatkräftig unter die Arme greifen (Macht). Es ist ebenso von Nutzen, wenn Sie in dieser Situation Geduld und Zuversicht mitbringen, dass alles gut gehen wird (Vertrauen). Anstatt sich zu ärgern, fragen Sie jene Nörgler, die den Termin lautstark unmöglich finden, welche Bedenken sie denn hätten, und wie die Terminierung aus ihrer Sicht sinnvoller wäre (Verständigung). So haben Sie alle drei Faktoren für Ihren Erfolg vereint.
Wenn allerdings die engagiertesten Ihrer erfahrenen Kontakte im heißesten Zeitraum verplant sind, ist das Vertrauen, dass alles trotzdem klappen wird, zu wenig. Dann braucht es viel Energie, um neue helfende Hände ausfindig zu machen, den Job an externe Professionisten zu vergeben, oder den Termin zu verschieben. Macht und Verständigung müssen hier zunächst Vorrang bekommen – und Vertrauen darf nachziehen, sobald wieder alles auf Schiene ist.
Vorgesetztenrolle versus Laterale Führung?
Oft kann man beobachten, dass sich Mitarbeiter von formal nicht zuständigen Personen eher führen lassen, als vom eigenen Chef. Und manchmal versucht dann dieser Chef, dank Weisungsbefugnis, die Probleme in seinen Führungsaufgaben von diesen lateralen Führern lösen zu lassen. Sie ahnen es schon: Das wird nicht funktionieren.
Erfolgreiche Führung klappt nur, wenn das jeweilige Thema für die Führungsperson persönlich hohe Relevanz hat – und die lässt sich nicht delegieren. Falls Sie Kinder haben, wissen Sie nur zu gut, dass Sie Regeln, hinter denen Sie nicht wirklich stehen, kaum erfolgreich durchsetzen können. In der Beziehung zwischen Führungskraft und Mitarbeiter gelten dieselben Wirkprinzipien. Wer also ein bestimmtes Verhalten haben möchte, muss es schon selbst durchsetzen.
Verbinden statt Trennen
Dabei sind die beiden, eine hierarchische Vorgesetztenrolle und Laterale Führung, absolut miteinander vereinbar. In unseren Breiten nutzen viele Führungskräfte die Macht der Weisungsbefugnis, weil sie es so gelernt haben. Wer Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und in die seines Teams hat, kann gleichzeitig formal und lateral führen.
Als Konzept hat Laterale Führung bereits eine lange Tradition. Schon in den 90er Jahren haben die Harvard Experten Roger Fischer und Alan Sharp ein Buch unter dem Titel “Getting it Done” veröffentlicht. Es richtet sich vorwiegend an Menschen, die ihre Projekte gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen ohne formale Führungsfunktion erfolgreich umsetzen müssen und wollen. Jeder, der schon einmal eine Projektleitungsrolle innehatte, kennt die Schwierigkeiten, denen man bei dem Versuch begegnet, Menschen zu Engagement zu (ver)führen, die auch „anderen Herren dienen“. Beim Studieren des Konzepts der Lateralen Führung kommt uns das irgendwie bekannt vor…
Was sind Ihre Erfahrungen mit dem Thema Laterale Führung? Wie wird bei Ihnen die Hierarchie als Unternehmenskultur gelebt? Teilen Sie Ihre Erfahrungen mit uns, damit wir gemeinsam weiterlernen!
*Dieser Blogpost ist auf Basis eines Vortrags entstanden, den Veronika Jungwirth bei der Netzwerkveranstaltung der Wirtschaftskammer Steiermark am 27.06.2017, dem Tag vor der Agile Austria, in Graz gehalten hat.
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